Der Tod ist ein Problem der Lebenden
Meine Tante ist tot. Lange habe ich über den Einstieg in diesen Artikel nachgedacht. Doch trotz allen Grübelns und Haareraufens wollte meinem Kopf kein besserer erster Satz einfallen. Warum auch? Dieser Satz bringt es auf den Punkt. Und ist der Grund dafür, dass ich mich in den vergangenen fünf Wochen konsequent von den sozialen Netzwerken fern gehalten habe. Denn die schillernde Welt von Instagram und Co., in der Schein so viel mehr zählt als Sein, wollte so gar nicht zu meinen Gedanken und Gefühlen passen. Ich brauchte eine Auszeit. Am liebsten wäre ich für ein paar Wochen ans Meer gefahren. Hätte Zwisprache gehalten mit dem Wind und den Wellen, den Flug der Möwen beobachtet. Aber leider war das nicht drin. Ich kann hier nicht alles stehen und liegen lassen, »nur« weil ein Mensch gestorben ist.
Es war jedoch sehr schwierig für mich, meine Alltagspflichten zu erledigen und gleichzeitig zu trauern. Wir alle kennen den banalen Spruch: »Bleib niemals stehen, denn das Leben geht weiter!« Ja, das Leben geht auch nach dem Tod eines Angehörigen weiter, keine Frage. Dennoch bin ich der Meinung, dass Innehalten wichtig ist. Tod und Trauer brauchen Raum und Zeit, um verarbeitet werden zu können. Vor allem dann, wenn es kein »stiller Tod« in hohem Alter ist, sondern ein Tod, der durch einen schmerzvollen Sterbeprozess oder einen Unfall eingeläutet wurde. So wie im Fall meiner Tante. Die nicht irgendeine Tante war, sondern meine Taufpatin. Eine lebenslustige Frau, die ohnehin schon viel zu viel durchgemacht hat – von einem langen, quälenden Krankenhausaufenthalt in der Kindheit zu einer Zeit, in der man sich über Kinderseelen noch nicht allzu viele Gedanken gemacht hat, über den Unfalltod ihres Verlobten mit 27 und einen Schlaganfall in den Vierzigern bis hin zu Dingen, die nicht hierher gehören. Ich habe mir gewünscht, dass sie ein hohes Alter erreicht und ihren Frieden mit sich und der Welt machen kann. Doch es sollte anders kommen.
[blockquote align=“none“ author=“Norbert Elias“]»Der Tod ist ein Problem der Lebenden. Tote Menschen haben keine Probleme. Unter den vielen Geschöpfen auf dieser Erde, die sterben, sind es allein die Menschen, für die Sterben ein Problem ist.«[/blockquote]
Der Tod ist nichts Schreckliches – und kann doch so schrecklich sein
Ich erinnere mich daran, als sei es gestern gewesen, dass meine Mutter mir mitteilte, dass meine Tante – ihre Schwester – Krebs hat. Lungenkrebs. Dann ging alles rasend schnell: die Einlieferung ins Krankenhaus, der Beginn der Chemotherapie, der Abbruch der Chemotherapie, die Suche nach einem Hospiz, das Warten auf den Tod. Bei jedem Anruf, jeder E-Mail, jeder WhatsApp-Nachricht bin ich zusammengezuckt. Unentwegt prasselten Bilder aus meiner Kindheit wie Hagelschläge auf mich ein. Schöne Bilder. Lustige Bilder. Und auch traurige Bilder. Bilder, an die ich lange nicht mehr gedacht hatte. Erst als meine Tante im Sterben lag, habe ich erkannt, welche fundamentale Bedeutung sie für mich hat: Von ihr habe ich gelernt, schönen Schmuck und Hunde zu lieben (als Kind hatte ich Angst vor Hunden). Sie hat mir gezeigt, dass Mode individuell ist, von Menschen wie uns gemacht wird und nicht von Designern. Sie ist mit mir in Restaurants gegangen und hat so die Grundlage für meine Leidenschaft für gutes Essen gelegt. Und nicht zuletzt hat sie mir immer wieder bewiesen, dass sich Schicksalsschläge am besten mit einem fröhlichen Lachen überstehen lassen. Erst nach ihrem Schlaganfall hat sie das Lachen verloren und es leider auch nicht wirklich wiedergefunden.
Ich habe in den letzten Wochen sehr viel geweint und muss selbst jetzt, beim Schreiben dieser Zeilen, immer wieder weinen. Die Angst vor dem drohenden, unausweichlichen Verlust bestimmte während des gesamten Sterbeprozesses meiner Tante mein Denken und Fühlen. Dann kam das Ende schneller als gedacht. So schnell, dass ich keine Gelegenheit hatte, mich persönlich von meiner Tante zu verabschieden. An der Kremation und der anschließenden Trauerfeier im engsten Kreis konnte ich ebenfalls nicht teilnehmen. Das hat mich schwer getroffen. Zwischen dem Erhalt der Horrornachricht und dem Tod meiner Tante vergingen nur wenige Wochen. Wochen, in denen ich zombiesk durch den Alltag getaumelt bin und nur noch »funktioniert« habe. Gleichzeitig kam auch meine Schwiegeroma mit der Diagnose Krebs ins Krankenhaus und wartete auf ihren OP-Termin für ihre zweite Mastektomie. Emotional war ich am Anschlag. Ich machte mir Gedanken über die eigene Sterblichkeit, die Sterblichkeit meiner Familie und den Sinn des Lebens. Und mache es noch …
Trauer kann tödlich sein
Trauer ist richtig und wichtig. Doch die Wucht meiner Trauer hat mich selbst überrascht. Sie sprang mich an wie ein wütender Bär und riss meine Seele in Fetzen. Und ja, auch Wut mischt sich in meine Gefühle. Zorn auf den Krebs, der die Lungen meiner Tante zerfressen und sie viel zu früh aus dem Leben gerissen hat. Was heißt das überhaupt: »zu früh«? Welche Lebenszeit ist heutzutage angemessen? In den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts in Deutschland geborene Frauen haben eine Lebenserwartung von 68,5 Jahren (Quelle: Statista). Dieses Alter hat meine Tante bei Weitem nicht erreicht. Das macht mich wütend. Ja, sie hat gequalmt wie ein Schlot. Aber das hat mein Großvater väterlicherseits auch und ist dennoch über 90 geworden. Ist das gerecht? Wer Krebs bekommt und wer nicht, entscheidet ein mitleidsloses Schicksal. Jetzt habe ich Angst, dass es auch meine Eltern, Markus oder mich treffen könnte. Verdrängung und Verleugnung helfen hier nichts. Wir alle haben nicht immer gesund gelebt. Da wir nicht wissen, wieviel Lebenszeit uns noch vergönnt ist, sollten wir uns mehr Gedanken über unsere Gesundheit machen. Vielleicht hilft es, vielleicht auch nicht.
Ich hatte nie Angst vor dem Tod. Zwar weiß ich als Agnostikerin nicht, ob und was uns nach dem Tod erwartet, aber da dieser nun einmal zwingend zum Leben gehört, habe ich ihn für mich akzeptiert. »Der Tod verbirgt kein Geheimnis. Er öffnet keine Tür. Er ist das Ende eines Menschen« (Norbert Elias, 1982). Das weiß ich. Das habe ich verstanden, soweit wir Menschen den Tod überhaupt verstehen können. Dessenungeachtet fällt es mir sehr schwer, den Tod von Menschen, die ich liebe, zu akzeptieren. Es erschreckt mich, wie heftig ich auf den Tod meiner Tante reagiere. Menschliches Leben ist endlich, da beißt die Maus keinen Faden ab. Warum also trauere ich so intensiv um sie? Ist es nicht vielmehr so, dass ich (auch) um mich trauere? Ist Trauer nicht vielleicht sogar eine krude, atavistische Form von Egoismus? Schließlich gibt es nun einen Menschen weniger auf der Welt, der mich von Geburt an kennt. Der weiß, wie meine ersten stolpernden Schritte auf diesem Planeten aussahen. Der meine Entwicklung vom Kind zur jungen Frau verfolgt und meine erste Liebe erlebt hat. Wertvolle Erinnerungen, für immer verloren. Wer bin ich, wenn sich niemand mehr an mich erinnert?
Natürlich gibt es noch viele andere Menschen in meinem Leben. Auch jüngere, die sich nach meinem Tod an mich erinnern werden, wie ich heute bin. Aber es gibt immer weniger Menschen, die sich an mich als Baby, als Kind, als junge Frau erinnern. Und das tut weh. Im letzten Jahr habe ich Abschied von sehr vielen Menschen nehmen müssen. Bei keinem war der Abschied so schmerzlich und qualvoll wie bei meiner Tante. Nicht nur, weil sie mir sehr nahe gestanden hat. Oder weil sie ein guter Mensch war und ich sie vermissen werde. Sondern auch, weil ich um die unwiederbringlichen Erinnerungen an mich trauere, die mit meiner Tante gestorben sind. Vielleicht schockiert dich das jetzt. Vielleicht hattest du aber auch schon ähnliche Gedanken. Mich jedenfalls treiben diese Überlegungen um, seitdem mir mein Soziologieprofessor Werner Fuchs-Heinritz das von ihm und Klaus Feldmann herausgegebene Buch »Der Tod ist ein Problem der Lebenden – Beiträge zur Soziologie des Todes« geschenkt hat. Ich möchte dir das Buch kurz vorstellen, ohne eine Rezension zu schreiben. Ich denke, der Inhalt spricht für sich und hilft dir vielleicht bei deiner eigenen Trauerarbeit.
Klappentext
»Der Tod ist nicht nur ein Gattungsmerkmal, das uns die Natur mitgegeben hat, sondern auch eines des gesellschaftlichen Lebens; nicht nur die Natur bedroht die Individuen mit dem Tode.
Daß Sterben und Tod zu den grundlegenden Problemen der Menschheit gehören, steht außer Zweifel. Doch wie haben die großen Soziologen dieses Thema in ihren Werken berücksichtigt? Wie kommt es in der Architektur ihrer Theorien vor? In den hier versammelten Beiträgen wird deutlich, wie rasch die Thematik Tod und Sterben soziologische Grundfragen berührt, insbesondere das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Auch können die ›Klassiker‹ der Soziologie manche Einsichten zu der öffentlichen Debatte beitragen, die sich derzeit zum gesellschaftlichen Umgang mit Sterben und Tod entwickeln.«
Inhaltsverzeichnis
- Klaus Feldmann und Werner Fuchs-Heinritz: Der Tod als Gegenstand der Soziologie. Einleitung.
- Werner Fuchs-Heinritz: Auguste Comte: Die Toten regieren die Lebenden
- Denes Nemedi: Das Problem des Todes in der Durkheimschen Soziologie
- Alois Hahn: Tod und Zivilisation bei Georg Simmel
- Constans Seyfarth und Gert Schmidt: Der Tod als Thema bei Max Weber
- Gerhard Wagner und Volkhard Krech: »Keine Zeit mehr haben«. Einige Überlegungen im Anschluß an Max Schelers Theorie des Todes
- Klaus Feldmann: Leben und Tod im Werk von Talcott Parsons
- Friedhelm Guttandin: Die Schrecken des Todes. Zur Institutionenlehre Arnold Gehlens.
- Armin Nassehi: Ethos und Thanatos. Der menschliche Tod und der Tod des Menschen im Denken Michel Faucaults
Der Tod ist ein Problem der Lebenden
Buchinformationen
Broschierte Ausgabe: 232 Seiten
Verlag: suhrkamp taschenbuch wissenschaft
Erscheinungsdatum: 24. Oktober 1995
Sprache: Deutsch
Format: 10,8 x 1,6 x 17,7 Zentimeter
ISBN-10: 3518288148
ISBN-13: 978-3518288146
Preis: 16,00 Euro
Sissis Resümee
Zu leben heißt, sich auf ein Wagnis einzulassen. Wir wissen nicht, was – und wer – uns auf unserer Lebensreise begegnet. Sicher ist trotz aller medizinischen und biotechnologischen Fortschritte nur der Tod. Wann und wie er uns ereilt, ist ungewiss. Vielleicht ist das ja sogar ganz gut so? Gestern Abend haben Markus und ich den Film »Stranger Than Fiction« mit Dustin Hoffman und Emma Thompson angesehen. Darin erfährt der Steuerbeamte Harold Crick, dass er nur eine Figur in einem Roman der Schriftstellerin Karen »Kay« Eiffel« ist, der seit zehn Jahren auf seine Fertigstellung wartet. Die Autorin kämpft mit einer Schreibblockade. Nur eines weiß sie schon über ihr Romanende: Harold muss sterben. Wir haben gestern lange darüber diskutiert, wie wir uns in Harolds Situation verhalten würden. Was würdest du tun, wenn du weißt, dass dich jemand »zu Tode schreibt«? Wenn du wüsstest, dass heute dein letzter Tag wäre: Wie würdest du ihn verbringen?
Fakt ist: Unsere Geburt ist ebenso zufällig wie unser Tod. Beides können wir nicht beeinflussen, es widerfährt uns. Doch ist das überhaupt wichtig? Angesichts von Millionen und Abermillionen Menschen, die Hunger und Krieg ausgesetzt sind, sollte ich mir vielleicht keine Gedanken über die eigene Sterblichkeit oder verlorene Erinnerungen machen. Hinzu kommt, dass unser Planet unter gravierenden Umweltproblemen leidet (globale Erwärmung, Artensterben, Verschmutzung der Gewässer etc.). Auch die derzeitigen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Ordnungssysteme weisen gravierende Schwächen auf. Eine der Folgen ist der Terror, wie wir ihn unlängst in Barcelona erlebt haben. Nicht zuletzt sind weltweit rund 100 Millionen Kinder obdachlos. Sie stehlen, betteln, arbeiten für kriminelle Organisationen oder verkaufen ihren Körper, um zu überleben (Quelle: United Nations Development Programme 2000). Sind diese Themen nicht vielleicht sogar wichtiger als der Tod und die Trauer um geliebte Angehörige?
Ich für meinen Teil denke, dass soziale Ungleichheit und die Zerstörung unseres Planeten sehr wohl wichtiger sind als meine individuelle Trauer. Das klingt nun vielleicht trivial und vermutlich findest du auch, dass dieser Artikel so gar nicht zu einem Lifestylemagazin passt. Doch ich glaube nichtsdestotrotz, dass es wichtig ist, offen über Tod und Trauer zu sprechen, den Tod zu enttabuisieren und ihn ins richtige Verhältnis zu dem zu rücken, was im Leben wirklich eine Bedeutung hat. Denn nach dem Tod können wir nichts mehr an unserem Leben ändern – jetzt schon. Oder um mit Michel Focault zu sprechen: »Das Wichtigste im Leben und in der Arbeit ist, etwas zu werden, was man am Anfang nicht war.« Ich jedenfalls möchte ein Mensch sein, der offen über seine Gefühle spricht. Auch, wenn es schwer fällt. Und du vielleicht gar nicht wissen möchtest, dass ich mich seit Wochen wie ein Zombie fühle. Dein Pech! Das Leben ist nicht immer lustig und der Tod erst recht nicht.
Der Tod wartet auf uns alle. Wie gehst du mit dem Thema um? Sprichst du mit deinen Lieben darüber oder schiebst du das Thema lieber weit weg? Ich freue mich wie immer über deinen Kommentar!
XOXO
Sissi
[Artikelbild: Ali Lander Shindler.]