Lebendig
So friedlich und flauschig ich im Alltag bin, so sehr liebe ich in meiner Freizeit Bücher aus den Genres Horror und Thriller. Wenn sich beide in einem Buch vereinen: perfekt! Und wenn die Geschichte dann auch noch aus der Feder von Jack Ketchum stammt: umso besser! Kein Wunder also, dass ich seinem im Mai 2014 in der Reihe Heyne Hardcore erschienenen Roman »Lebendig« (Originaltitel: Right to Life) nicht widerstehen konnte. Ganz bewusst habe ich vor der Lektüre keine Rezensionen anderer Leser durchstöbert, um mir unvoreingenommen selbst ein Bild von dem Buch machen zu können.
Und das war vermutlich auch gut so … Zu meiner Überraschung entpuppte sich nämlich das, was ich nach dem Lesen des Klappentextes für eine »klassische« Entführungsstory mit ein bisserl ebenso »klassischem« Psychopathentum gehalten hatte, schon auf den ersten Seiten als ein Blick in menschliche Abgründe ganz anderer Art.
Abtreibung und Sadismus sind die Saiten, an denen die beiden schwerst gestörten Entführer Stephen und Kath zupfen und damit die Seele ihres Opfers Sara in den Grundfesten erschüttern. Öhm … Abtreibung? Ein gesellschaftlich nach wie vor kontrovers diskutiertes Thema. Insbesondere in den USA ein Thema, das die Gemüter erhitzt und nicht selten zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führt. Und damit sind wir auch schon mittendrin in der Handlung!
[blockquote align=“none“ author=“HÖRZU“]»Ein schockierendes Buch vom Meister des Albtraums.«[/blockquote]
Klappentext
»Ihr erster Gedanke war, dass man sie lebendig begraben hatte. Dass sie sich in einem Sarg befand. Unter ihrem Rücken spürte sie Holz, und dicke Bretter auch zu ihrer Linken und zu ihrer Rechten, so nah, dass sie gerade noch den Arm heben konnte, um zu erfühlen, dass auch über ihr Holz war. Nie zuvor hatte sie Angst vor engen Räumen gehabt. Doch dieser Raum machte ihr große Angst.«
Der Autor
Jack Ketchum ist das Pseudonym des ehemaligen Schauspielers, Lehrers, Literaturagenten und Holzverkäufers Dallas Mayr. Er gilt heute als einer der absoluten Meister des Horror-Genres. Im Jahre 2011 wurde er zum Grand Master der World Horror Convention ernannt. Er erhielt fünf Mal den Bram Stoker Award sowie 2015 den Lifetime Achievement Award der Horror Writers Association.
Was passiert im Roman »Lebendig«? Vorsicht: Spoileralarm!
Die vierzigjährige Sara, ungewollt schwanger von ihrem verheirateten Liebhaber Greg, wird direkt vor dem Eingang einer Abtreibungsklinik in ein Auto gezerrt, mit Medikamenten »ruhig gestellt« und entführt. Als sie wieder zu sich kommt, liegt sie in einer engen Kiste. Ein Sarg? Ihre daraus resultierende Panik wird ebenso beklemmend und eindrucksvoll geschildert wie das nun folgende mehrmonatige Martyrium aus körperlicher und seelischer Misshandlung. Folter in jeder nur vorstellbaren – und unvorstellbaren – Form, Gehirnwäsche, Manipulation … Jack Ketchum lässt wieder einmal nichts aus. Ein Horrorszenario, das nicht nur (schwangeren) Frauen an die Nieren geht.
Und ganz klar ein Buch, das mich wieder einmal vor die Frage stellt, warum es für Bücher keine freiwillige Selbstkontrolle gibt. Wenn ich mir eine Folge »Grimm« auf Maxdome ansehen will, muss ich jedes Mal via Personalausweisnummer verifzieren, dass ich »reif« genug für diese Art von Fernsehunterhaltung bin. Aber jede Zwölfjährige kann sich in der Buchhandlung den Roman »Lebendig« von Jack Ketchum kaufen. Und der ist eindeutig FSK 18. Alterskontrollen gibt es nicht. Noch Fragen?
Aber zurück zum Buch! Im Roman »Lebendig« schildert Jack Ketchum in seinem für ihn typischen knappen, sachlichen und fast schon klinischen Sprachstil Saras Leidensweg in den Händen ihrer sadistischen Entführer. Die Bilder im Kopfkino wirken auf mich besonders eindringlich, weil das Opfer schwanger ist. Frauen sind von alters her lebensspendende Wunder, Göttinnen gleich, und sollten entsprechend ehrfurchtsvoll behandelt werden. Nicht so bei Jack Ketchum! Er lässt Sara durch ihre Entführer Stephen und Kath – die selbst ein Opfer Stephens ist – unfassbare Qualen erleiden. Lediglich eine namenlose Katze spendet Sara Wärme und Trost. Ja, vielleicht letztendlich sogar die Kraft, sich vom hilflos ausgelieferten Opfer zu einer sich selbst und das ungeborene Kind erhaltenden Täterin zu werden …
Als Bonusmaterial schenkt uns der Verlag zwei Kurzgeschichten von Jack Ketchum: »Tapferes Mädchen« und »Rückkehr«. Obwohl die Stories wahrscheinlich als Füllsel verwendet wurden, um auf eine halbwegs übliche Taschenbuchlänge zu kommen, haben mich die beiden Geschichten schwer beeindruckt.
Lebendig
Buchinformationen
Titel: Lebendig
Taschenbuch: 224 Seiten
Verlag: Heyne Verlag
Erscheinungsdatum: 12. Mai 2014
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3453676580
ISBN-13: 978-3453676589
Preis: EUR 8,99 | Kindle: EUR 7,99
Sissis Resümee
Ein echter Schocker, der mich bis zur letzten Seite gefesselt hat! Wie so oft bei Romanen von Jack Ketchum, musste ich auch hier wieder an vielen Stellen tief Luft holen – schonungslos und unerbittlich prasselt eine brutale Szene nach der anderen auf den Leser ein. Und dennoch ist »Lebendig« kein Splatterroman, sondern grundsolider Psychohorror. Es könnte jedem von uns passieren, dass er in die Hand eines Sadisten wie Stephen fällt. Und genau dieser Gedanke macht das Buch für mich so erschreckend real. Spätestens seit »Shades of Grey«, dem absurdesten Bestseller aller Zeiten, wissen wir, dass BDSM in mehr Schlafzimmern daheim ist, als so manchem ehrenwerten Bürger lieb sein kann. Und dass BDSM-Verträge zwischen Dom und Sub häufig nur ein Vorwand sind, um häusliche Gewalt in psychischer und physischer Form »romantisch« zu verklären.
Das ist auch in der Ehe von Stephen und Kath der Fall, Saras Peinigern. Glaubt der Leser anfangs noch ebenso wie Sara an eine mächtige Geheimorganisation von Abtreibungsgegnern im Hintergrund, wird nach und nach deutlich, dass Stephen Sara nicht für ihren Abtreibungsversuch »bestraft«, sondern weil ihm ihre Folter sadistisches Vergnügen bereitet. Er genießt seine Macht über die Schwangere und lässt sich immer perfidere Foltermethoden einfallen – bis diese ihm sogar selbst Angst machen. Ihm ist bewusst, dass er Sara letztendlich töten wird, der ultimative Kick. Seine Frau Kath indes ist selbst ein Opfer und froh darüber, dass sich Stephens Brutalität auf Sara konzentriert. Überdies ist sie unfruchtbar und will Saras Kind. Für Kath zwei gute Gründe, um sich an der Folter aktiv zu beteiligen. Schließlich zieht sie sogar selbst heimlich einen Lustgewinn aus Saras Körper, nur, um nach dem Missbrauch mit ihr zu plaudern wie mit einer guten Freundin …
Einige Leser werfen Jack Ketchum auf Amazon vor, dass seine Figuren zu »flach« und »blass« gezeichnet sind und die Ereignisse während Saras Entführung nur an der Oberfläche kratzen. Hallo? Schon mal etwas vom Kopfkino gehört? In meinen Augen ist es vollkommen in Ordnung, wenn Jack Ketchum anfangs sehr ins Detail geht und später in der Erzählung ganze Wochen und Monate zusammenfasst: Für die entführte Sara dehnt sich jeder Tag ins Unendliche – wie ein zäher ausgespuckter Kaugummi, den niemand in der brennenden Augustsonne vom heißen Asphalt kratzen will. Gleichzeitig weiß sie nie, was die nächste Minute an neuen Schrecken bringt und verliert darüber völlig ihr Zeitgefühl. Weder Sara noch dem Leser wird eine Ausweichmöglichkeit geboten. Das Grauen wird anfassbar, muss durchlitten werden – in Dauerschleife, bis Sara aus diesem Kreislauf der Gewalt ausbricht.
In meinen Augen ist → »Lebendig« keine leicht zu lesende Kost, sondern nur etwas für Kenner des Genres (Affiliate Link). Zartbesaitete sollten unbedingt die Finger davon lassen! Doch wer Psychothriller liebt, ist mit diesem temporeichen Kurzroman gut bedient. Wie ist es mit dir: Magst du die Schreibe von Jack Ketchum oder ziehst du andere Autoren vor?
XOXO
Sissi
[Transparenz: Das Taschenbuch »Lebendig« von Jack Ketchum wurde uns als Rezensionsexemplar vom → Heyne Verlag zur Verfügung gestellt. Artikelbild: Cherry Laithang.]